Adrien M & Claire B: Hakanaï (FR) // 05.02.2023 // Take Over Festival // Festspielhaus // Baden-Baden (DE)
Mit dem Schreiben über Kunst ist das halt so ein Ding. Ich kann euch hier nur das vermitteln, was ich bei der choreographierten, digital-humanoiden Soloperformance „Hakanaï“ der beiden Franzosen Adrien M & Claire B gesehen habe und was das dann in mir ausgelöst und erweckt hat. Nicht mehr, nicht weniger. Soviel vorweg: Es waren auch extrem starke Emotionen drunter und ich konnte diesen Text erst schreiben, nachdem die Eindrücke sich einigermaßen sortiert hatten.
Erstmal: Gaaaaanz herzlichen Dank an Julia Lonkwitz, die uns nicht nur mit offenen Armen akkreditiert, sondern dreyeck-vibes.eu auch ernst nimmt, das finde ich nicht selbstverständlich. Ich treffe mich mit ihr eine halbe Stunde vor Beginn der Aufführung und schnalle schneller als du ein Champagnerglas in die Hand nehmen kannst: Da lebt jemand seinen Beruf mit jeder Faser und mit jeder Neurone. Die Pressereferentin des Festspielhauses Baden-Baden erklärt mir das Konzept des Takeover Festivals, mit dem gezielt junge Leute für „klassische“ Kunstformen begeistert werden sollen. Ich finde: Die ganze Crew hier macht einen super Job, alles fresh ohne angestrengt zu wirken, vom Programm über die Nah-an-den-Künstler_innen-dran-Workshops bis hin zu Tape-Art im Foyer und Clubparties. Richtig gutes Konzept. Da ist sicherlich für das ganze Spektrum des Kunstpublikums was dabei, von den ernsthaften Sensibelchen bis hin zu den Partygranaten.
Auf ihre begeisternde Art führt Julia Lonkwitz mich in die Geschichte des Gebäudes ein, in dem sie sich beruflich auslebt. Mit 2.500 Sitzplätzen immerhin eine der größten Spielstätten der klassischen Musik in Europa, wusste ich vorher gar nicht. Weiteres europäisches Superlativ: Erster privat finanzierter Opern- und Konzertbetrieb. Eigentlich sind es zwei Gebäude, die eine Symbiose eingehen: Man betritt das Festspielhaus durch den Haupteignang des neoklassizistischen, liebevoll in Stand gehaltenen ehemaligen Bahnhofs (der neue liegt dafür jetzt fast in Frankreich…), die Tickets gibt´s am ehemaligen Fahrkartenschalter. Dann geht´s rein in den neuen, größeren Teil. 1998 eröffnet, atmet aber für meinen Geschmack noch klar den 80er Odem. Ich bin in Pforzheim zur Schule gegangen, und da sind die 80er Bauten schon ziemlich über der Augenkrebsgrenze, deshalb hab ich jetztgrad Probleme mir das Gebäude objektiv anzuschaun. Gedanken an die Schulzeit sind einfach net so des bei mir.
Genug mit außenrum, heute bin ich einzig wegen Hakanaï hier. Hand auf´s Herz: Ich hab nur das Bild im Programm gesehen, weiß gekleidete japanisch aussehende Frau interagiert auf japanische Art und Weise mit einem projizierten virtuellen Raum. Das war alles, was ich vorher drüber wusste, ich schwör bei <beliebigen Namen bitte hier einsetzen>.
Erste Überraschung: Ich geh in den Raum rein, alles Mitternachtsblau (wenn man viel fliegt denkt man vielleicht auch instinktiv an die Farbe der Uniformen an Bord) bis ganz schwarz (somber würde Johnny Cash dazu sagen, und der is ja Schwarzexperte Nr.1), dazu weiße Buchstaben, Zahlen und Strukturen, die an den Wänden entlangschweben und -fließen. Ich sage also hallo zu den Grundfarben Japans (kuro, shiro, ao), nur rot (aka) fehlt. Jetzt denkt ihr: Was macht der Mischi jetzt ewig mit den Farben rum (eyeroll). Aber ihr müsst wissen: Während wir Europies normalerweise nur etwa 20 Worte zur Farbbeschreibung verwenden, gibt es in Japan über 400 Wörter. Also kammer da net so drüber weggehn wie über nen Gullydeckel vorm Pennymarkt.
In der Mitte der Location (= Hinterbühnenbereich) steht ein rechteckiger Raum mit transparenten Wänden, oben offen. Die Eingangstüre ist durch einen Eingangsbereich geschützt, sodass man ihn nur betreten kann, wenn man ums Eck geht, so ne Art Labyrintheingang ohne Labyrinth dahinter. Die Bestuhlung für das Publikum ist im Viereck um den Raum angeordnet und wirklich extremst nah dran. Ich setze mich in die erste Reihe, eh klar. Sofort schießt mir ein siedendheißer Gedanke ins Hirn, als ich dran denke, dass gleich eine weiß gekleidete Tänzerin in der Mitte stehen wird. In meiner Karate-Zeit (sensei ni rei) habe ich gelernt, dass der Gi (=Anzug) deshalb weiß ist, weil dies in der japanischen Kultur die Farbe des Todes ist und „das letzte Hemd“ symbolisiert. Blitzschnell google translate angeworfen und links Hakanaï reingedaddelt. Rechts erscheint: Flüchtigkeit. Bingo.
Also setzen wir uns hier mit dem relevantesten Thema der Menschheit auseinander: Vanitas. Jetzt mag jemand sagen: Aber die Liebe (rot=>aka)! Aber auch die ist letztlich flüchtig, selbst wenn man an die Wiedergeburt glaubt. Oder doch nicht? Ich bin erstmal platt, denn die Themen Vergänglichkeit, Loslassen und Tod sind seit neuestem die letzten verbliebenen auf meiner schier nicht enden wollenden persönlichen Auseinandersetzungs-Bucketlist. Klingt jetzt so, als würde ich morgen schon den Löffel abgeben, aber weit gefehlt, euer Mischi ist kerngesund wie nie. Irgendwann muss man halt mal anfangen, sich auf den größten und endgültigsten Termin seines Lebens / seiner Leben vorzubereiten, sonst stolpert man da unvorbereitet, vielleicht mit einem Fenchel oder irgendwashalt in der Hand rein und es wird unwürdig. Sitzenbleiben, Extrarunde, nicht mehr mit eurem Mischi denkt sich euer Mischi.
Dann geht´s los. Die Tänzerin schreitet mit einem enstpannten Lächeln unhörbar und maximal achtsam durch den Äther um den transparenten Raum als wäre es eine tibetische Stupa. Dann schreitet sie durch den Eingangsbereich. Die Schwelle des Raums überquert sie mit zurückgehaltenem Oberkörper als ob es gälte, eine einen Meter hohe Hürde zu überwinden. Nun ist sie also mitten im Raum bringt sich in eine kauernde Position, die dem „Kind“ im Yoga ähnlich ist. Alle elektronischen Geräusche, welche die Szenerie bis dahin begleitet haben, verstummen. Ein Moment der Stille, Bewegungslosigkeit und Entspannung.
Bämm!!! Ich zucke sowas von zusammen – der elektronische Schlag einer Kodo-Drum lässt mir fast so viel Adrenalin in meinen Körper schießen wie bei meiner Geburt. Es folgen traditionell-japanische Streichersounds. Die Tänzerin erhebt sich und beginnt mit der Karoheft-Texttur des Raums zu spielen. Als Vogelstimmen die Musik ablösen, sucht sie den Raum ab und es gelingt ihr, die Wandstruktur wie einen schweren Vorhang anzuheben und darunter durchzuschauen. Immer besser gelingt es ihr, die Vorhänge in Besitz zu nehmen, schließlich wirbelt sie diese dann über alle Wände hinweg herum, Hermine Granger nix dagegen.
Es folgen zahlreiche Szenen, in denen die Tänzerin mit den umgebenden Strukturen, die mal flächendeckend, mal linienförmig mit ihr interagieren, kämpft. Mehrfach wird sie niedergeworfen und es gelingt ihr nur mit Mühe, wieder in ihre maximal spannungsgeladene, gleichzeitig aber auch maximal lockere Position zurückzufinden und den Kampf von Neuem aufzunehmen.
Als sie in einer folgenden Szene auf dem Rücken liegt, gewinnt man den Eindruck, sie möchte gerade etwas gebären. Just in diesem Moment materialisieren Buchstaben und Zahlen an den Wänden und streamen von unten oben. Sie steht auf und betrachtet, was an den Wänden entstanden ist. Die Matrix wandelt sich erst kaum wahrnehmbar, später immer schneller zu einem reißenden Strom, gegen den unsere Tänzerin teilweise gut, teilweise fast ertrinkend ankämpft, mehrmals wird sie fast gegen eine der Wände geschleudert. Die Szene endet, als sich die Wogen geglättet haben, indem sie die Wand berührt und alle Zahlen und Buchstaben in sich hineinfließen lässt. Sie betrachtet den für das Publikum nicht sichtbaren Nukleus, der nun in ihren Händen liegt. Sie lässt diesen frei wie einen Schmetterling und es breitet sich ein wundervoller Sternenhimmel an den Wänden aus. Die Sternpunkte sind alle miteinander verbunden. Diese schwebende Stimmung der Klarheit, Erkenntnis, Harmonie und Verbundenheit berührt mich tief.
Ein plötzlich einsetzende elektronisches Gewitter à la Raining Blood fegt dieses wundervolle Bild mit einem Schlag weg. Dunkelheit, Leere. Kalte, metallische Töne bauen sich auf, der Raum füllt sich mitternachtsblau. Unsere Tänzerin kämpft gegen einen unsichtbaren Gegner, ein deutlich stärkerer als die bisherigen. Sie wird immer wieder gepackt und niedergeworfen, sie muss alles geben, um ihm halbwegs die Stirn zu bieten. Als sie wieder einmal am Boden liegt, entspannt sie sich überraschenderweise und es geschieht eine Art Wiederauferstehung. Sie sammelt sich, bringt sich in eine aufrechte Position und steht schließlich fest und entpannt wie ein Shaolin-Kranich. Der nun einsetzende fadenförmige, schwere Regen scheint den Gegner wegzuwaschen. Die Tänzerin empfängt den immer dichter werdenden Regen mit nach oben gerichtetem Gesicht. Ich muss instinktiv an „Looking for the rain“ des im letzten Jahr verstorbenen Mark Lanegan denken.
Es erscheint eine neue, flächige Struktur an den Wänden um unsere Tänzerin. Diese Schutzmauern werden aber gleich wieder mit einer enormen Wucht sturmreif geschossen , laute Kanonenschläge erschallen. Die Tänzerin taumelt, die Einschläge scheinen auch sie zu treffen. Alles ist kaputt und pulverisiert, die viereckigen kleinen Trümmerteile schweben an den Wänden. Die Tänzerin baut neue Kraft (Ki) auf und wandelt diese in kinetische Energie um: Sie bringt die Trümmerteile in einen rechtsdrehenden Schwung, später wirbelt sie den Strom nach Belieben herum.
Dann folgt eine mich sofort tief berührende Szene: Sie hört damit auf, die Trümmerteile zu bewegen. Sie hebt die Arme, entlässt die Bruchstücke nach oben. Stück für Stück, Teil für Teil entschwindet dadurch aus dem Raum ins leere Nichts, alles räumt sich auf, bis zum allerallerletzten Teil. Dann verlässt die Tänzerin achtsam, aufrecht und würdevoll den Raum. Es wird komplett dunkel und stumm.
Ich bin sehr dankbar für dieses wundervolle Bild. Ich werde es in meinem Inneren aufbewahren und immer wieder ablaufen lassen. Damit fühle ich mich für mein irgendwann bevorstehendes Verlassen meines eigenen Raums zumindest ein minikleines bisschen vorbereitet.