Sophie Hunger (CH) & Berner Symphonieorchester (CH): Über ds Chrüz // 20.05.2023 // Casino // Bern (CH)
Zarte, bescheiden vorgetragene, leise und intelligente Tiefe, und die Stimme! Das war Sophie Hunger bis zum Abend des 20. Mai 2023 für mich. So oft schon besprochen in all ihren Facetten. Zum Beispiel hier und hier und hier und hier und hier und hier. Eine Künstlerin, die live extremst bei sich sein kann, die musikalisch und sprachlich so variabel ist wie kaum eine zweite. Eine, die ihre zahlreich vorhandenen Erinnerungen an intensive Gefühle in ihrem Innersten spontan lebendig werden lassen und mitreißend nach Außen kehren kann. Eine, die nach den vielen Jahren auf der Bühne immer noch hungrig ist nach Musik. Besessen auf eine positive Art. Ich könnte euch jetzt langweilen mit den Facts – Diplomatentochter, als Kind deshalb des öfteren unfreiwillig entwurzelt, in den großen Metropolen zu Hause, schon ganz früh vom Wunsch beseelt, auf den Brettern der Bühnen der Welt zu stehen. Mit mehreren kulturellen Hintergründen und doch keinem so richtig. Mit dem Glück, dass sie dann, wenn sie schwyzerdütsch singt, mit niemandem so richtig verglichen werden kann. Eine, die von sich sagt, dass sie den Wandel braucht, da sie nicht tot sein möchte, bevor sie tot ist. Eine, die sich ständig neu erfindet und sich ständig von sich selbst emanzipiert. Aber das lass ich mal und gehe lieber auf den heutigen Abend ein.
Drei Abende hintereinander Sophie Hunger „über ds Chrüz“ mit den inzwischen 140 Jahre alten Berner Symphonikern in Sophies Geburtsstadt Bern. Das bedeutet für sie erstmal: Disziplin und Struktur, pünktlich da sein, an die Arrangements halten. Fülle statt Zartheit. Kann das gutgehen? Aber hallo! Meint zumindest Ane Hebeisen nach dem Genuss des ersten Abends im Kultur-Casino. Eine sehr treffende und detailreiche Rezension, finde ich! Da bleibt mir am zweiten Abend gar nicht mehr sooo viel hinzufügen, in der Bewertung sind wir uns da wohl einig.
Los geht’s! Die Symphoniker laufen ein, inklusive Dirigent und Mastermind des Zusammenspiels: Jochen Neuffer, geboren in Tübingen, ausgebildet in Stuttgart. An seinen strahlend glänzenden Augen kann man ablesen: Er ist sehr stolz auf das, was er da erschaffen hat. Hoffentlich besser als die drei Songs auf dem Robbie Williams Best-of-Album XXV, die er arrangiert hat, denke ich kurz und hoffe, dass das ins Kapitel „ich war jung und brauchte das Geld“ gehört.
Statt einer Vorband bereitet er uns mit dem Orchester erstmal mit „Short Ride in a Fast Machine“ von John Adams, einer schnellen Fanfare à la Star Wars oder Indiana Jones (Tempo: „Delirando“), auf den Abend mit Sophie vor. Das Publikum ist angesichts des immensen Fahrtwinds erstmal in die Sitze gepresst, ich hab spontan Bock auf Popcorn.
Auftritt Sophie Hunger. In ihrem farbigen, langen Mantel hebt sie sich deutlich vom gewohnt festlich-gedeckt gekleideten Orchester ab. Ebenso ihre Band-Mitglieder, die sie mitgebracht hat, allesamt hervorragende Musiker_innen: Martina Berther am Bass, Alberto Malo an den Drums, die drei Berliner Background Vocalists Moritz Klatt, Liv Sindler und Lucia Boffo sowie Alexis Anérilles an Piano, Keyboard, Synths, Celesta und Flügelhorn.
Anders als die Kleidung erwarten lässt, verschmilzt die Musik aus beiden Welten nicht nur erstaunlich gut miteinander, es öffnen sich sogar neue Dimensionen. Sophies Songs erfahren durch die Arrangements nicht nur einen anderen Klang, sondern auch mehr Dramatik und Tiefe. „There Is Still Pain Left“ beginnt leise mit Sophies Gitarre, nach und nach übernehmen die Symphoniker, Harfe statt Gitarre, Streicher dazu, bäm. Das scheint Sophie sehr zu behagen (mir übrigens auch), sie läuft stimmlich zu Höchstform auf und kann sich auch sogar gegen die volle Breite des Orchesters behaupten, insbesondere in „1983“. Wahnsinn! Bei „Security Check“ habe ich beinahe das Gefühl, gemeinsam mit Sophie zu fliegen, zusätzlich getragen von ihren hervorragenden Backgroundvokalisten. Ich bin entzückt!
Nach so viel Euphorie braucht’s erstmal eine Verschnaufpause. Bei einem klassischen Konzert käme jetzt dran: Pause, 1-2 Sektchen schlürfen, Gong, wieder rein. Aber nicht hier, es geht nahtlos weiter. Und das ist gut so, denn ich bin hellwach und voll drin in der Musik. Mit dem Instrumentalstück „D’un matin de printemps“ von Lili Boulanger (genau mein Ding als Debussy-Fan) wird der zweite Teil des Konzertabends eingeläutet. „Bad Medication“ kommt in James-Bond-Manier daher, später folgt eine grandiose Interpretation des todtraurigen Chansons „Avec le temps“ von Léo Ferré, bei der sich Sophie gekonnt als Grande Dame gibt, dazu ein Solo der Ersten Geige. Bravo! Bravissimo! Sehr gelungen auch die Interpretation von „Dr Hunger Wird Schlimmer“, gekrönt von einem wahnsinnig guten Flügelhorn-Solo von Alexis Anérilles, der zuvor schon bei „Maria Magdalena“ mit einem Klavier-Impro-Solo brilliert hat. Einen meiner Lieblingssongs hat Sophie auch im Gepäck: „Walzer für Niemand“.
Der Konzertabend ist ganz viel auf einmal, aber bestimmt eins nicht: Langweilig. Sophie fragt in „Tricks“: „What do you do when your dreams of all come true?“ und ich denke: Dass dieser Konzertabend noch lange weitergeht. Aber der ist kurz danach für’s erste zu Ende… Das Publikum spendet lautstark und lange standing ovations, zu Recht, zu Recht, zu Recht!
So gibt es noch ein wenig Verlängerung. Und was für eine! Unter anderem gibt Sophie ganz alleine ohne Mikro singend ein schwyzerdütsches Lied zum Besten, es trieft das Blut. Was für eine Stimme, unverstärkt in dieser tollen Location, mit theatralischen Gesten, ich bin hin und weg. Ganz zum Schluss dann „Rise and Fall“, das mit Sophie am Klavier leise beginnt uns sich zusammen mit den Symphonikern fast zu einer Oper steigert.
WAS FÜR EIN SPANNENDER UND INTENSIVER KONZERTABEND! Aber ein bisschen Wehmut ist dabei – denn wer Sophie kennt, weiß, dass sie kein Fan von Wiederholungen ist. Will heißen: Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ich dieses Erlebnis kein zweites Mal haben werde. Da hilft’s zumindest ein ganz klein wenig, dass die Songs des Abends im nicht-symphonischen Original hier nachgehört werden können. Aber hey – das Leben geht weiter. Und das nächste Abenteuer steht schon auf dem Programm: Sophie Hunger am 26.07. zusammen mit Bonaparte auf der Bühne im Tollhaus in Karlsruhe. Also wieder „über ds Chrüz“. Ich freu mich schon wie Bolle auf die nächste Neu-Erfindung!