Theater Eurodistrict BAsel ALsace (DE+FR) – Dreyeckland // 28.04.2023 // Parktheater // Lahr (DE)
Manchmal finden wundervolle Sachen an Orten statt, an denen man es niemals vermutet. Heute Abend setze ich mich in den Regionalzug von Freiburg nach Lahr. Ich war da noch nie und muss erstmal auf der Karte schaun, wo das überhaupt liegt. Als ich aus dem Zug aussteige, weiß ich auch warum: Vor mir liegt ein Ort, der mich mit Architektur aus der Hölle begrüßt. Einheits-Zeilensiedlungen, teilweise im Ikea-Billig-Stil saniert, dazu Punkthäuser im 80-er Beton-Brutalismus, frage nicht. Nach zwanzig Minuten Fußmarsch durch diverse Nicht-Orte erreiche ich den Stadtpark Lahr. Wundervoll anzuschauen ist der, es blühen Tulpen in allen Farben, Holland nichts dagegen. Der Haken dran: Der Park kostet 3 EUR Eintritt, er ist schon geschlossen und ich kann leider nur durch’s Gitter reinschaun. Macht nichts, just in diesem Moment öffnet eh der Himmel seine Schleusen und es regnet wie derweil in Cherrapunji. Also nichts wie rein ins Parktheater, formerly known as Stadthalle Lahr, Baujahr 1936. Ein Riesending für ne Stadt wie Lahr, 688 Plätze. Das DRK ist vorschriftsmäßig zweimannhoch da, zwei Damen an der Kasse, zwei an den beiden Garderobenflügeln . Die Bewirtung übernehmen an diesem Abend zwei Mitglieder des Männcherchors der örtlichen Polizei (Breisacher Sekt, lokaler Wein, kaltes Hieronymus, dickes Lob!), auf den Bistrotischchen wurden netterweise Salzstängel installiert.
„Dreyeckland“ heißt das Stück, das sich der Intendant Edzart Schoppmann vorgenommen hat. Schoppmann wurde in Stuttgart sozialisiert, ging auf die Karlsschule, so wie zuvor Friedrich Schiller, Johann Heinrich Dannecker oder Johann Georg Kerner. Anders als seine Vorgänger wurde Schoppmann aber 1958 geboren und hat damit in seiner Schulzeit im stockkonservativen Stuttgart die 68-er Zeit erlebt, dann den BaaderMeinhoffProzess in Stammheim. Kein Wunder also, dass ein Künstler aus ihm geworden ist, denn diese werden oft dort erweckt, wo die Gegensätze und damit die Reibung am größten sind. Deshalb bin ich auch gespannt auf den 1. Mai in Zürich. Ah beim Thema RAF fällt mir noch ein, dass ich ja noch was dazu lesen möchte. Von Klaus Pflieger. Den habe ich einige Jahre fast jeden Tag beim Pendeln nach Stuttgart im Zug gesehen (2. Klasse) und war schwer beeindruckt, wie ernsthaft vertieft er an seinem Buch gearbeitet hat. Da muss sein halbes Leben drinstecken, bin gespannt.
Jetzt aber mal zur Sache, Schätzchen! In „Dreyeckland“ geht es also um den Atomprotest in Wyhl. Ein 2.500-Seelen-Kaff, von dem sich die Politik wahrscheinlich 120%-ig sicher war, dass dort am Arsch der Welt niemals kein erfolgreicher Protest gegen ein Kernkraftwerk entstehen kann. Wyhl liegt ja etwas eingesperrt, ganz am Rande des Ländles, die westliche Ortsgrenze identisch mit der Staatsgrenze zum Erbfeind. Im Süden versperrt der Kaiserstuhl den Blick auf das verkopfte Freiburg, die Schweizer ganz da unten halten sich ja eh immer raus, und die Franzosen, ja die Franzosen halt. So dachte man sich das vielleicht. Und Mann dachte sehr wahrscheinlich auch, dass Mann und Frau und Kind Sachen glauben wie „Wenn Wyhl nicht ganz schnell gebaut wird, dann gehen noch vor 1980 die Lichter aus“ (Hans Filbinger, Ministerpräsident, CDU, vormals strammer Marinerichter und NSDAP-Mitglied, im Jahr 1975). Aber geschehen ist dann, der Mensch kann es nicht anders benennen, ein zeitgeschichtliches Wunder, wie wir es normalerweise, wenn überhaupt, nur einmal pro Generation erleben.
Gemeinsam haben Leute wie du und ich aus Südbaden, dem Elsaß und der Nordschweiz nicht nur den Bau des geplanten Kernkraftwerks friedlich verhindert, sie haben die Saat für nichts geringeres als die deutsche Anti-Atomkraft-Bewegung, die Energiewende und die Grüne Parteibewegung in Deutschland und Frankreich ausgebracht. Von der Ernte dieser Bewegung leben wir noch heute, immerhin haben wir dadurch noch eine geringe Chance, die Lebensgrundlagen für die Mensch- und Tierwelt in lebenswerter Weise zu erhalten. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit sinkt und viele von uns jeden Tag einen Satz in der Art herausschreien möchten, wie das Rio Reiser 1972 gemacht hat: „Der Traum ist aus“ . Diese Textzeile aus einem meiner All-Time-Favorite-Songs kommt in Schoppmanns Stück auch mehrmals vor. Aber halt immer auch mit der Folgezeile „Aber ich werde alles geben, damit er Wirklichkeit wird“. David gegen Goliath, alle gemeinsam, so wie Bayern gegen den SC Freiburg. Wie kriegt man sowas hin? Darum geht’s heut Abend.
Die Schauspieler des BAAL Theaters bringen ihre archetypischen Charaktere hervorragend zum Ausdruck: Ein konservativer, heimatverbundener Kaiserstühler Winzer, ein studierter, schlauer deutscher Ingenieur, eine beseelte offenherzige elsässische Hippielady, eine verbissene kämpferische Freiburger Feministin und ein slackender schweizer Rocker prallen aufeinander und könnten erst einmal nicht unterschiedlicher sein. Doch die gemeinsame alemannische Sprache, die Musik, der Alkohol und nicht zuletzt der gemeinsame Feind verbinden sie zu einer Einheit ganz im Sinne ihrer Ahnen, die ebenfalls im Wyhler Wald zueinandergefunden haben.
Mehr will ich zur Handlung und den zahlreichen an diesem Abend intonierten Protestsongs aber gar nicht schreiben, man muss die Intensität dieser Gemeinsamkeitsfindung selbst im Theater spüren. Ebenso die gemeinsame und doch unterschiedliche Sprache im Dreyeckland. Und natürlich auch die Intensität der alles verbindenden Musik.
Nach der Vorstellung frage ich Edzard Schoppmann, wie er auf die Idee gekommen ist, dieses Stück umzusetzen. Er erklärt mir, dass ihm in der heutigen Protestbewegung der „Last Generation“ etwas fehlt, ihm ist das insgesamt gesehen zu negativ besetzt. Ich finde: Da hat er Recht. Bitte nicht falsch verstehen, thematisch ziehe ich da gar nichts in Zweifel bei Fridays for Future und wahrscheinlich wird der Berg an Problemen, denen wir uns als Menschheit stellen müssen, immer komplexer, schneller und schwerer bewältigbar und die Zeit läuft uns immer schneller weg. Ich könnte an manchen Tagen selbst verzweifeln, wie wenig uns Menschen gelingt, um künftiges Leid zu verhindern. Aber Protest darf auch Rock’n’Roll und Hippie und Punk sein. Protest darf auch sexy sein. Protest darf auch Spaß machen. Ich setz sogar noch ein El Hotzo-Zitat von letzter Woche drauf: „Planet und Klima zerstören ist das eine, was mich dabei noch wütender macht, ist dass wir dabei nicht mal eine richtig gute Zeit hatten???“ .
Eigentlich ist der Artikel jetzt fertig. Aber wer den Mischi kennt, weiß: Der hört nie auf, weiterzudenken, sprich Dauerabgrübler. Und auf der Heimfahrt hat er sich überlegt: Was würd die Menschheit tun, wenn sie den aussichtslosen Kampf tatsächlich gewinnt und in Rio Reisers „Paradies“ einzieht? Wollen das überhaupt alle? Gar nicht mal so einfach zu beantworten, fand der Mischi dann. Und grübelt sich darüber immer noch einen ab.
Super! Vielen Dank für diesen persönlichen Blog, der so ganz anders erfrischend anders daher kommt wie eine normaler Zeitungsartikel. Das macht Freude! Herzlicher Gruß und Danke für Deinen Besuch, auch im Namen meines Ensembles, Edzard Schoppmann